Vor Ihnen liegt eine der wichtigsten strategischen Entscheidungen der kommenden Jahre: Welche KI-Komponenten entwickeln Sie selbst, welche kaufen Sie zu?
Die Antwort entscheidet über Millionen von Euro, Jahre der Entwicklungszeit und letztendlich über Ihren Wettbewerbsvorsprung. Doch die meisten Unternehmen treffen diese Wahl aus dem Bauch heraus – ein teurer Fehler.
Dabei lässt sich beobachten: Unternehmen, die systematisch zwischen Eigenentwicklung und Zukauf abwägen, realisieren ihre KI-Projekte oftmals schneller und mit geringeren Gesamtkosten.
Die Entscheidung ist komplex, weil KI keine einheitliche Technologie ist. Ein Chatbot für den Kundensupport stellt völlig andere Anforderungen als ein Machine-Learning-System für Ihre Produktionsoptimierung.
Dieser Artikel liefert Ihnen die Entscheidungsgrundlage – strukturiert, praxisnah und ohne Marketing-Floskeln.
Was bedeutet Make or Buy bei KI-Komponenten?
Make or Buy bedeutet im KI-Kontext weit mehr als die klassische Frage Eigenentwicklung oder Einkauf.
Bei KI-Systemen entscheiden Sie über verschiedene Architekturebenen: das Foundation Model, die Anwendungslogik, die Dateninfrastruktur und die Benutzeroberfläche.
Die vier Entscheidungsebenen
Foundation Models: Hier ist die Entscheidung meist klar – Sie kaufen zu. Ob GPT-4, Claude oder Gemini: Eigene Large Language Models zu trainieren kostet Millionen und macht für die meisten Unternehmen keinen Sinn.
Anwendungslogik: Das Herzstück Ihrer KI-Lösung. Hier entscheidet sich, ob Ihr System Standard-Workflows abbildet oder echte Differenzierung schafft.
Dateninfrastruktur: Vector Databases, ETL-Pipelines, Monitoring-Systeme. Oft unterschätzt, aber entscheidend für Skalierbarkeit und Performance.
User Interface: Chat-Interfaces gibt es wie Sand am Meer. Spezielle Eingabemasken für Ihren Workflow dagegen kaum.
Hybride Ansätze als Standard
Die Praxis zeigt: Reine Make- oder Buy-Entscheidungen sind selten optimal. Erfolgreiche Unternehmen kombinieren geschickt.
Sie nutzen externe APIs für Basis-KI-Funktionen, entwickeln aber die spezifische Anwendungslogik selbst. Das Resultat: Schnelle Time-to-Market bei voller Kontrolle über die Differenzierung.
Aber Vorsicht vor dem Hybris-Effekt: Viele Teams überschätzen ihre Fähigkeiten und unterschätzen die Komplexität. Ein ChatGPT-Wrapper ist noch keine KI-Strategie.
Technische Entscheidungsfaktoren im Detail
Bestehende IT-Infrastruktur
Ihre vorhandene Infrastruktur ist der größte Kostentreiber oder -sparer bei KI-Projekten.
On-Premise-Systeme erfordern oft aufwändige Integration. Cloud-native Unternehmen können dagegen schnell skalieren. Doch auch hier gilt: Legacy-Systeme sind nicht automatisch ein Ausschlusskriterium für Eigenentwicklung.
Der entscheidende Faktor ist die API-Fähigkeit Ihrer Bestandssysteme. Moderne APIs ermöglichen elegante Integration – veraltete Schnittstellen zwingen zu kostspieligen Workarounds.
Interne Kompetenzen ehrlich bewerten
Haben Sie die richtigen Leute? Diese Frage entscheidet über Erfolg oder Scheitern.
KI-Entwicklung braucht mehr als Python-Kenntnisse. Sie benötigen Data Scientists, ML Engineers, DevOps-Spezialisten und Domain-Experten – eine seltene Kombination.
Kompetenz | Make-Eignung | Buy-Alternative |
---|---|---|
ML/AI Engineering | Hoch (wenn vorhanden) | Externe Entwicklung |
Domain-Expertise | Sehr hoch | Schwer ersetzbar |
Datenmanagement | Mittel | Cloud-Services |
DevOps/MLOps | Niedrig | Managed Services |
Realitätscheck: Können Sie ein vollständiges KI-Team für mindestens zwei Jahre finanzieren? Falls nein, spricht vieles für externe Partner oder fertige Lösungen.
Sicherheit und Compliance
Datenschutz ist nicht verhandelbar – aber er muss auch nicht zum Innovationskiller werden.
Die DSGVO und branchenspezifische Regularien schaffen klare Rahmenbedingungen. Cloud-Lösungen erfüllen oft höhere Sicherheitsstandards als interne Systeme – wenn sie richtig konfiguriert sind.
Entscheidend ist die Datenklassifizierung: Welche Daten dürfen externe Systeme verarbeiten? Welche müssen intern bleiben? Diese Abgrenzung bestimmt Ihre Architekturentscheidungen.
Skalierbarkeit und Performance
KI-Workloads sind unberechenbar. Ein viraler Chatbot kann Ihre Infrastruktur binnen Stunden überlasten.
Cloud-Services bieten elastische Skalierung – gegen entsprechende Kosten. Eigene Systeme geben Ihnen Kontrolle, erfordern aber durchdachte Kapazitätsplanung.
Die Faustregel: Bei unvorhersehbaren Lastspitzen sind Cloud-APIs überlegen. Bei konstanten, hohen Volumina rechnen sich oft eigene Systeme.
Wirtschaftliche Bewertungskriterien
Total Cost of Ownership richtig berechnen
Die wahren Kosten verstecken sich oft in Details, die Ihr CFO erst später entdeckt.
Entwicklungskosten sind nur der Anfang. Wartung, Updates, Compliance, Monitoring und Support treiben die TCO in die Höhe. Bei Cloud-Services zahlen Sie kontinuierlich, bei Eigenentwicklung explodieren oft die versteckten Folgekosten.
Ein realistisches Beispiel: Ein interner Chatbot kostet 150.000 Euro Entwicklung, aber 80.000 Euro jährlich für Betrieb und Weiterentwicklung. Nach drei Jahren sind Sie bei 390.000 Euro – ohne Garantie für Updates oder neue Features.
Return on Investment messbar machen
KI-ROI ist messbar, wenn Sie die richtigen Metriken definieren.
Vermeiden Sie weiche Kennzahlen wie verbesserte Benutzererfahrung. Fokussieren Sie auf harte Fakten: eingesparte Arbeitsstunden, reduzierte Bearbeitungszeiten, gesteigerte Conversion-Raten.
Ein Praxisbeispiel aus dem Maschinenbau: Automatisierte Angebotserstellung reduziert den Zeitaufwand von 8 auf 2 Stunden pro Angebot. Bei 200 Angeboten jährlich entspricht das 1.200 gesparten Stunden – bei einem internen Stundensatz von 80 Euro sind das 96.000 Euro Einsparung pro Jahr.
Risikoverteilung zwischen Make und Buy
Beide Ansätze bergen unterschiedliche Risiken – kennen Sie Ihre Toleranz?
Make-Risiken: Technologie-Obsoleszenz, Personalausfall, Budgetüberschreitungen, Security-Gaps. Dafür: Volle Kontrolle und Unabhängigkeit.
Buy-Risiken: Vendor Lock-in, Preiserhöhungen, Service-Ausfälle, Datenschutz-Verstöße. Dafür: Planbare Kosten und professioneller Support.
Die kluge Strategie: Risiken diversifizieren. Kritische Kernfunktionen entwickeln Sie selbst, Standardprozesse lagern Sie aus.
Finanzierungsmodelle und Budgetplanung
KI-Projekte scheitern oft an unflexibler Budgetplanung.
Eigenentwicklung erfordert hohe Vorabinvestitionen. Cloud-Services funktionieren wie ein Abonnement. Hybride Modelle kombinieren beide Ansätze.
Für mittelständische Unternehmen empfiehlt sich oft das Start small, scale smart-Prinzip: Beginnen Sie mit Cloud-Services, sammeln Sie Erfahrungen, entscheiden Sie dann über Eigenentwicklung.
Branchenspezifische Besonderheiten
Maschinenbau und Industrie 4.0
In der Industrie entscheiden oft Domänen-spezifische Anforderungen über Make or Buy.
Produktionsoptimierung braucht tiefes Prozessverständnis. Standard-KI-Tools verstehen nicht, warum Ihre CNC-Maschine bei bestimmten Materialien anders reagiert. Hier zahlt sich Eigenentwicklung aus.
Dokumenten-Automatisierung dagegen ist standardisierbar. Angebote, Lastenhefte und Wartungsberichte folgen ähnlichen Mustern – unabhängig vom Hersteller.
SaaS und digitale Dienstleister
SaaS-Unternehmen haben oft die besten Voraussetzungen für KI-Eigenentwicklung: Cloud-native Infrastruktur, agile Teams und datengetriebene Kultur.
Dennoch gilt: Ihre Kernkompetenz liegt im Produktbereich, nicht in der KI-Forschung. Nutzen Sie vorhandene APIs für Standard-Features, entwickeln Sie nur das, was echte Differenzierung schafft.
Ein Praxistipp: A/B-Tests mit verschiedenen KI-Services helfen bei der Entscheidung. Was funktioniert besser – GPT-4 oder Claude für Ihre spezifische Anwendung?
Traditionelle Dienstleistungsunternehmen
Beratungen, Kanzleien und Agenturen stehen vor besonderen Herausforderungen: Legacy-Systeme, regulatorische Anforderungen und vorsichtige Führungsebenen.
Hier ist der schrittweise Ansatz oft optimal. Beginnen Sie mit sicheren, abgegrenzten Use Cases. Ein interner Chatbot für Firmenwissen birgt weniger Risiken als automatisierte Kundenberatung.
Praxiserprobte Entscheidungsszenarien
Szenario 1: Kundensupport-Automatisierung
Thomas aus dem Maschinenbau will den Ersatzteil-Support automatisieren. 80 Prozent der Anfragen sind Standard-Fragen zu Lieferzeiten und Kompatibilität.
Make-Variante: Interne Entwicklung mit RAG-System und eigener Ersatzteil-Datenbank. Kosten: 200.000 Euro, 8 Monate Entwicklung.
Buy-Variante: Chatbot-as-a-Service mit API-Integration. Kosten: 1.500 Euro monatlich, 4 Wochen Setup.
Empfehlung: Buy für den Start, Make für Advanced Features. Der Chatbot sammelt erstmal Daten über häufige Anfragen – diese Insights verbessern später die Eigenentwicklung.
Szenario 2: Dokumenten-Automatisierung
Anna aus dem SaaS-Bereich möchte Onboarding-Materialien automatisch personalisieren. Jeder neue Kunde bekommt maßgeschneiderte Guides.
Make-Variante: Template-Engine mit LLM-Integration und Customer-Data-Pipeline. Aufwand: 120.000 Euro, 5 Monate.
Buy-Variante: Document-Generation-API mit Custom Templates. Kosten: 800 Euro monatlich pro 1000 Dokumente.
Empfehlung: Hybrid-Ansatz. Standard-Templates über externe APIs, spezifische Anpassungen intern entwickeln.
Szenario 3: Predictive Maintenance
Markus will Ausfälle in der IT-Infrastruktur vorhersagen. Die Herausforderung: 15 verschiedene Legacy-Systeme mit unterschiedlichen Datenformaten.
Make-Variante: Eigenes ML-System mit Custom-Integrations für alle Legacy-Systeme. Aufwand: 350.000 Euro, 12 Monate.
Buy-Variante: Enterprise-Monitoring mit KI-Features. Kosten: 3.000 Euro monatlich, 6 Wochen Integration.
Empfehlung: Stufenweiser Ansatz. Standard-Monitoring sofort implementieren, Custom-ML für kritische Systeme später entwickeln.
Framework für die richtige Wahl
Der Brixon-Entscheidungsbaum
Systematische Entscheidungen brauchen strukturierte Frameworks. Diese Checkliste hilft bei der objektiven Bewertung:
- Strategische Relevanz: Ist diese KI-Funktion kerngeschäftskritisch oder Commodity?
- Differentiation Potential: Schafft Eigenentwicklung echten Wettbewerbsvorsprung?
- Interne Kompetenzen: Haben Sie die nötigen Skills oder können Sie sie schnell aufbauen?
- Zeitdruck: Wie schnell müssen Sie liefern?
- Budget-Flexibilität: Können Sie hohe Vorabinvestitionen stemmen?
- Datenhoheit: Müssen sensible Daten intern bleiben?
- Skalierungsanforderungen: Sind die Lastspitzen vorhersehbar?
Bewertungsmatrix anwenden
Bewerten Sie jeden Faktor von 1 bis 5. Ein Score über 25 spricht für Make, unter 15 für Buy, dazwischen für hybride Ansätze.
Aber Vorsicht vor mathematischer Scheingenauigkeit: Das Framework liefert Orientierung, nicht die finale Wahrheit. Bauchgefühl und Erfahrung bleiben entscheidend.
Timing der Entscheidung
Viele Unternehmen entscheiden zu früh oder zu spät. Der optimale Zeitpunkt liegt nach der Proof-of-Concept-Phase.
Erst wenn Sie verstehen, was Ihre KI-Anwendung wirklich leisten soll, können Sie fundiert zwischen Make und Buy wählen. Theoretische Bewertungen führen oft in die Irre.
Fazit und Handlungsempfehlungen
Die Make-or-Buy-Entscheidung bei KI ist komplexer als bei traditioneller Software – aber auch systematisch lösbar.
Erfolgreiche Unternehmen denken in Etappen: Sie starten mit Cloud-Services, sammeln Erfahrungen und entwickeln dann strategisch wichtige Komponenten selbst.
Diese Strategie minimiert Risiken und maximiert Lerneffekte. Sie vermeiden sowohl die Vendor-Lock-in-Falle als auch die Eigenentwicklungs-Hybris.
Ihr nächster Schritt: Identifizieren Sie einen konkreten Use Case und durchlaufen Sie das Entscheidungsframework. Lassen Sie sich von Experten beraten, aber entscheiden Sie selbst.
KI ist zu wichtig für Ihr Geschäft, um die Entscheidung dem Zufall zu überlassen.
Häufig gestellte Fragen
Wann sollten mittelständische Unternehmen KI-Komponenten selbst entwickeln?
Eigenentwicklung lohnt sich, wenn drei Faktoren zusammenkommen: Die KI-Funktion ist geschäftskritisch, Sie haben die nötigen Kompetenzen im Team und die Anwendung bietet echten Wettbewerbsvorsprung. Für Standard-Anwendungen wie Chatbots oder Dokumentenverarbeitung sind Cloud-Services meist effizienter.
Wie hoch sind die versteckten Kosten bei KI-Eigenentwicklung?
Rechnen Sie mit 60-80 Prozent der ursprünglichen Entwicklungskosten jährlich für Wartung, Updates und Betrieb. Ein System für 150.000 Euro Entwicklungskosten benötigt etwa 90.000-120.000 Euro jährlich für den laufenden Betrieb – ohne größere Feature-Updates.
Welche KI-Kompetenzen braucht ein Unternehmen für Eigenentwicklung?
Ein vollständiges KI-Team benötigt Data Scientists, ML Engineers, DevOps-Spezialisten und Domain-Experten. Mindestens vier Vollzeit-Kräfte über zwei Jahre – das entspricht etwa 800.000-1.200.000 Euro Personalkosten. Kleinere Teams können einzelne Komponenten entwickeln, aber nicht komplette KI-Systeme.
Sind Cloud-KI-Services DSGVO-konform?
Ja, wenn Sie die Services richtig konfigurieren. Achten Sie auf EU-Hosting, Datenverarbeitungsverträge und explizite DSGVO-Compliance der Anbieter. Viele Cloud-Services erfüllen höhere Sicherheitsstandards als interne Systeme – entscheidend ist die korrekte Implementierung.
Wie bewerte ich den ROI von KI-Projekten objektiv?
Fokussieren Sie auf messbare Kennzahlen: eingesparte Arbeitsstunden, reduzierte Bearbeitungszeiten, gesteigerte Conversion-Raten. Vermeiden Sie weiche Faktoren wie verbesserte User Experience. Ein realistischer ROI-Zeitraum für KI-Projekte liegt bei 18-36 Monaten.
Was ist der beste Einstieg in KI für traditionelle Unternehmen?
Starten Sie mit einem klar abgegrenzten, risikoarmen Use Case wie einem internen Chatbot für Firmenwissen oder automatisierter Dokumentenerstellung. Nutzen Sie Cloud-Services für den Proof-of-Concept und sammeln Sie Erfahrungen, bevor Sie größere Investitionen tätigen.